Hans-Jürgen ELSCHENBROICH, Neuss

Neue Ansätze im Geometrieunterricht der S I durch elektronische Arbeitsblätter

Werkzeuge im Geometrieunterricht

Die Werkzeuge des Geometrie-Unterrichts sind über Jahrhunderte unverändert geblieben: Zirkel und Lineal in der Tradition Euklids. Ab den 50er Jahren kam (zunächst in der Lehrerschaft heiß umstritten) das Geodreieck hinzu. Der Com­puter hatte lange Zeit keinen nennenswerten Einfluss, Programme wie KOBESCH brachten nicht den didaktischen Fortschritt, der den Aufwand recht­fer­tigte, und konnten sich nicht durchsetzen. Der entscheidende Sprung kam in den 90er Jahren durch die Verbreitung der Dynamischen Geometrie-Software (DGS) wie z. B. Cabri-Geo­mètre oder Euklid. Zugmodus, Ortslinien und Makros brach­ten einen erheblichen didaktischen Zugewinn gegenüber den bis­herigen Werk­zeugen.

Diese Programme lieferten neue unterrichtliche Möglichkeiten durch visuelles und experimentelles Arbeiten, durch heu­ristisches Ansätze insbesondere mit Orts­linien, durch Entlastung infolge Zusammen­fassung komplizierter Konstruk­tionen zu Makros und durch kooperatives Arbeiten.

Dennoch gab es nicht nur allseitige Begeisterung, sondern auch Zurückhaltung (organisa­torische Probleme, fehleranfällige und zeitaufwändige Kon­struktions­phasen) und prinzipielle Bedenken (Verlust zeichnerischer Erfahrungen und Fähig­keiten, Verringerung des Beweisbedürfnisses durch zu große Evidenz).

Die Auswirkungen der DGS waren auf der Ebene der Didaktik schnell spürbar, in der unterrichtlichen Realität aber lange auf einige Enthusiasten beschränkt, die sich an besonders schönen und exotischen Beispielen begeisterten. Der Unter­richt in den Standardthemen wurde kaum befruchtet. Dies lag nicht zuletzt daran, dass eine stabile Lernum­gebung für eine erfolgreiche Bearbeitung der Standardthemen mit modernen Werkzeugen fehlte.

Zugmodus und Beweglichkeit

Durch den Zugmodus der DGS kommt (wieder) Beweglichkeit in die Geometrie. Dies ist eigentlich keine neue Idee[1], mit dem modernen Werk­zeug DGS jedoch besser realisierbar als zu früheren Zeiten.

Im Zugmodus besteht die didaktische Gefahr darin, dass die vorhandene Evidenz dazu verführt, Eigenschaften und Sachverhalte von Konstruktionen bloß festzu­stellen. Die Frage nach dem ‚Warum‘ ist aber zentral im Mathematikunterricht. Dies bedeutet nicht, dass man sie in formaler Weise beantworten muss. Präfor­male Beweise (Blum/ Kirsch und Wittmann/ Müller), visuell-dynamische Beweise mit Einsatz von DGS (Elschenbroich) ermöglichen es, Beobachtungen zu verstehen und eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu geben.

Das Konstruieren entsprechender Figuren von Anfang an erwies sich im Unter­richt als mühevolle und unsichere Tätigkeit. Die erforderlichen Konstruk­tionen waren zeitaufwändig und fehleranfällig, ohne enge Vorgaben meist nicht reali­sierbar und benötigten Spezialistenwissen (z.B. bei den verschiedenen Arten von Punkten in DGS, Konzept von Freiheitsgraden). In Analogie zur Informatik möchte ich hier vom Konstruieren als geometrischem Programmieren sprechen.

Elektronische Arbeitsblätter

Elektronische Arbeitsblätter bestehen aus vorbereiteten Konstruktionen und inte­grier­ten Aufgaben­stellungen[2]. Sie bieten eine sichere Ausgangsposition für unterrichtliche Aktivitäten und fungieren als ‚mediale Brücke‘ zwischen der Welt der Geometrie und der Welt der DGS. Sie überspannen sozusagen das unsichere, sumpfige Gelände der geometrischen Konstruktionen. Der Fokus verschiebt sich dadurch vom Konstruieren von Figuren hin zum Arbeiten mit Figuren, zum Ex­perimentieren, Erstellen und Deuten von Ortslinien, Entdecken von Eigenschaf­ten, Überprüfen von Vermutungen, Begründen und lokalem Ordnen.

Verändertes Lernen

Es zeigen sich bei Schülern, die mit elektronischen Arbeitsblät­tern arbeiten, deutliche Veränderungen im Lernen[3]. Die Schüler sind mehr han­delnd aktiv statt passiv zuhörend und arbeiten dadurch in viel höherem Maße eigenständig. Durch Partnerarbeit am Computer wird kooperativ gelernt, das ent­deckende Lernen mit experimentellen, visuellen, heuristischen Ansätzen bekommt eine größere Bedeutung.

Gegenüber dem bisherigen Mathe­matikunterricht bekommt die Dokumentation des eigenen Vorgehens und des Nach­denkens darüber sowie die Präsentation der Ergebnisse einen höheren Stellenwert. Dies braucht Zeit und ist für Schüler ungewohnt und schwierig, aber unbedingt notwendig, um das ‚flüchtige Bild‘ der Aktivitäten an Computer und Bildschirm zu festigen.

Verändertes Lehren

In dem Maße, wie sich das Lernen der Schüler ändert, ändert sich auch das Lehren. Der Lehrer ist nicht mehr alleiniger Wissens­vermittler, sondern muss die Lernprozesse der Schüler organisieren, beobachten und bei Bedarf beraten. Dazu gehört auch das Ermutigen zu alternativen Lösungswegen und das Angebot von geeigneten Zusatzaufgaben.

Das selbstständige Arbeiten der Schüler erfordert in besonderem Maße, die Wis­sensbasis der Schüler zu organisieren, um einen Wissens-Flickenteppich zu ver­meiden. Die Entwicklung und Vermittlung von Methodenkompetenz ist dabei ein eigenes Lernziel, die Schüler müssen lernen, ihre Arbeit zu dokumentieren, zu reflektieren und zu präsentieren.

Das stärker experimentelle Arbeiten erfordert auch ein anderes Umgehen mit Fehlern. Eine ‚falsche‘ Vermutung ist eine (notwendige) Stufe im Erkenntnis­prozess und eine Chance im Lernprozess; sie sollte nicht mit schlechten Noten geahndet werden. Der Lehrer sollte sich im Lernprozess weiter von der Rolle der allwissenden Kontrollinstanz lösen und Formen der Selbstkontrolle einführen. Das entlastet ihn und schafft Raum für die oben beschriebenen Aufgaben.

Schließlich wird es als Konsequenz auf Dauer auch Auswirkungen auf Leistungs­überprüfung und -bewertung geben[4].

Problematische Aspekte

Nach den bisherigen Erfahrungen und Rückmeldungen[5] kann man feststellen:

·        Bei der Erstellung elektronischer Arbeitsblätter besteht die Gefahr einer un­nötigen Engführung, die aus dem berechtigten Streben nach einer stabilen Basis für die Schüleraktivitäten erwächst[6].

·        Es gibt ‚klammheimliche Voraus­setzungen‘, die von uns als Aufgabenkon­strukteuren zunächst gar nicht als wesentliche Voraussetzungen erkannt wur­den[7], sondern erst durch Rückmeldungen als solche offenbar wurden.

·        Es gibt eine ‚Angst des Lehrers vor der eigenen Überflüssigkeit‘[8].

·        Die elektronischen Arbeitsblätter ermöglichen durchaus verschiedene Lö­sungsansätze, können aber dennoch in der unterrichtlichen Behandlung vom Lehrer auf die ‚richtige‘ Lösung, die der Lehrer präsentiert, eingeengt werden, statt ver­schiedene Denkansätze der Schüler zuzulassen und vorzustellen.

Ausblick

Bisher liegen u. a. Beispiele von elektronischen Arbeitsblättern für die Klassen 7/8 vor, die mit dem Programm Euklid erstellt sind (Elschenbroich/ Seebach) und zur Zeit auch für Cabri II entwickelt werden. Sie enthalten vorbereitete Kon­struktionen und die Aufgabenstellung für die Schüler[9].

Neue Ansätze gibt es durch die in letzter Zeit aufgekommenen Java-Geometrie-Programme wie z. B. Geonet oder Cinderella, die in der Umgebung eines Inter­net-Browser lauffähig sind. Zum einen ist es dadurch möglich, programm­unab­hängig Arbeitsblätter einzusetzen und Aufgaben via Internet zu stellen. Zum anderen bietet insbesondere Cinderella eine neue Lernumgebung[10], die es den Schülern ermöglicht, bei Bedarf vom Lehrer vorbereitete Hinweise abzurufen und durch einen im Hintergrund laufenden Beweiser Ergebniskontrolle und Rückmel­dung zu erhalten. Dies ist in der Weise bei Cabri II oder Euklid nicht möglich. In diesen erweiterten Möglichkeiten dürfte ein enormes didaktisches Potential liegen, das sich in den nächsten Jahren entfalten wird.

Literatur

Blum, Werner/ Kirsch Arnold: Warum haben nicht-triviale Lösungen von f ' = f keine Nullstellen? Beobachtungen und Bemerkungen zum 'inhaltlich anschaulichen' Beweisen. In: Kautschitsch/ Metzler (Hrsg.): Anschauliches Beweisen.

Elschenbroich, Hans-Jürgen: Geometrie beweglich mit Euklid. Dümmler, Bonn 1996.

Elschenbroich, Hans-Jürgen: Visuelles Beweisen - Neue Möglichkeiten durch Dynami­sche GeometrieSoftware. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 1999. Franzbecker.

Elschenbroich, Hans-Jürgen/ Seebach, Günther: Dynamisch Geometrie entdecken. Elektronische Arbeitsblätter mit Euklid, Klasse 7/8. Dümmler-Stam, Köln 1999.

Kautschitsch, Hermann: Wie kann ein Bild das Allgemeingültige vermitteln?

In: Kaut­schitsch/ Metzler (Hrsg.): Anschauliches Beweisen. Hölder-Pichler-Tempsky, Wien 1989.

Schumann, Heinz: Interaktive Arbeitsblätter für das Geometrielernen. In: Mathematik in der Schule 36 (1998)10, S. 562 – 569.

Treutlein, Peter: Der geometrische Anfangsunterricht. Teubner, Leipzig 1911.

Wittmann, Erich Christian; Müller, Gerhard: Wann ist ein Beweis ein Beweis? In: Mathematikdidaktik: Theorie und Praxis. Festschrift für Heinrich Winter. Cornelsen, Berlin 1988.



[1] “Als einer der Hauptunterschiede altgriechischer und neuzeitlicher Geometrie gilt das, daß in jener die Figuren sämtlich als starr und fest gegeben angenommen werden, in dieser als beweglich und gewissermaßen fließend, in stetem Übergang von einer Gestaltung zu anderen begriffen. ... Der Auffassung der Figuren als starrer Gebilde kann und muß in verschiedener Weise entgegen gearbeitet werden. Das eine hierzu Erforderliche ist das Beweglichmachen der Teile einer Figur ... .” Peter Treutlein, 1911.

[2] Beispiele elektronischer Arbeitsblätter mit Euklid, Cabri II oder Cinderella können in der Mathe-Werkstatt geladen werden: http://www.mathe-werkstatt.de/download/elab.zip

[3] Dies sind bisher nur subjektive Erfahrungswerte, die noch empirisch überprüft werden müssen. Wie sich auf dieser Tagung zeigte, gibt es dazu schon verschiedene Forschungsprojekte, siehe z. B. die Beiträge von Thomas Gawlick und Gaby Heintz in diesem Band.

[4] Es lässt sich derzeit noch nicht in genügender Klarheit überblicken, in welcher Weise solche Aufgaben auch in Klassenarbeiten Einzug halten. Daneben werden aber vermutlich Referate und Facharbeiten ein größeres Gewicht erhalten.

[5] Hierfür danke ich Kristina Friebe, Thomas Gawlick, Gaby Heintz und Bernd Wohlers.

[6] Je mehr die Aufgaben auf einen speziellen Lehrer und seine Art zu unterrichten zugeschnitten sind, desto leichter fällt eine Öffnung der Aufgaben. In dem Maße, wie die Aufgaben für unterschiedliche Lehrertypen, unterschiedliche Klassen mit unterschiedlichen Lernvoraus­setzungen geeignet sein sollen, wird eine stärkere Führung fast zwangsläufig. Hier gilt es, ein akzeptables Maß zwischen Führung und Freiheit zu finden.

[7] So ist zum Beispiel das Verständnis eines Kreises als Ortslinie der Punkte, die von einem gegebenen Punkt M festen Abstand haben, in einer Klasse vorhanden, in einer anderen Klasse aber eine große Hürde für die Bearbeitung der Aufgabe, weil der Kreis nur als ‚runde Linie‘ gesehen wird. Ähnliches ließ sich für die Mittelsenkrechten feststellen.

[8] Es fällt Lehrern manchmal schwer, sich zurückzunehmen und den Schülern Raum für eigene Arbeitsphasen zu geben. Dann besteht die Gefahr, einen kurzschrittig fragend-entwickelnden Unterrichtsstil gegen den Ansatz der elektronischen Arbeitsblättern durchzuhalten.

[9] Beispiele in: http://www.mathe-werkstatt.de/download/elab.zip

[10] vgl. dazu auch den Beitrag von Gaby Heintz in diesem Band.