Die Werkzeuge des Geometrie-Unterrichts sind über Jahrhunderte unverändert geblieben: Zirkel und Lineal in der Tradition Euklids. Ab den 50er Jahren kam (zunächst in der Lehrerschaft heiß umstritten) das Geodreieck hinzu. Der Computer hatte lange Zeit keinen nennenswerten Einfluss, Programme wie KOBESCH brachten nicht den didaktischen Fortschritt, der den Aufwand rechtfertigte, und konnten sich nicht durchsetzen. Der entscheidende Sprung kam in den 90er Jahren durch die Verbreitung der Dynamischen Geometrie-Software (DGS) wie z. B. Cabri-Geomètre oder Euklid. Zugmodus, Ortslinien und Makros brachten einen erheblichen didaktischen Zugewinn gegenüber den bisherigen Werkzeugen.
Diese Programme lieferten neue unterrichtliche Möglichkeiten durch visuelles und experimentelles Arbeiten, durch heuristisches Ansätze insbesondere mit Ortslinien, durch Entlastung infolge Zusammenfassung komplizierter Konstruktionen zu Makros und durch kooperatives Arbeiten.
Dennoch gab es nicht nur allseitige Begeisterung, sondern auch Zurückhaltung (organisatorische Probleme, fehleranfällige und zeitaufwändige Konstruktionsphasen) und prinzipielle Bedenken (Verlust zeichnerischer Erfahrungen und Fähigkeiten, Verringerung des Beweisbedürfnisses durch zu große Evidenz).
Die Auswirkungen der DGS waren auf der Ebene der Didaktik schnell spürbar, in der unterrichtlichen Realität aber lange auf einige Enthusiasten beschränkt, die sich an besonders schönen und exotischen Beispielen begeisterten. Der Unterricht in den Standardthemen wurde kaum befruchtet. Dies lag nicht zuletzt daran, dass eine stabile Lernumgebung für eine erfolgreiche Bearbeitung der Standardthemen mit modernen Werkzeugen fehlte.
Durch den Zugmodus der DGS kommt (wieder) Beweglichkeit in die Geometrie. Dies ist eigentlich keine neue Idee[1], mit dem modernen Werkzeug DGS jedoch besser realisierbar als zu früheren Zeiten.
Im Zugmodus besteht die didaktische Gefahr darin, dass die vorhandene Evidenz dazu verführt, Eigenschaften und Sachverhalte von Konstruktionen bloß festzustellen. Die Frage nach dem ‚Warum‘ ist aber zentral im Mathematikunterricht. Dies bedeutet nicht, dass man sie in formaler Weise beantworten muss. Präformale Beweise (Blum/ Kirsch und Wittmann/ Müller), visuell-dynamische Beweise mit Einsatz von DGS (Elschenbroich) ermöglichen es, Beobachtungen zu verstehen und eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu geben.
Das Konstruieren entsprechender Figuren von Anfang an erwies sich im Unterricht als mühevolle und unsichere Tätigkeit. Die erforderlichen Konstruktionen waren zeitaufwändig und fehleranfällig, ohne enge Vorgaben meist nicht realisierbar und benötigten Spezialistenwissen (z.B. bei den verschiedenen Arten von Punkten in DGS, Konzept von Freiheitsgraden). In Analogie zur Informatik möchte ich hier vom Konstruieren als geometrischem Programmieren sprechen.
Elektronische Arbeitsblätter bestehen aus vorbereiteten Konstruktionen und integrierten Aufgabenstellungen[2]. Sie bieten eine sichere Ausgangsposition für unterrichtliche Aktivitäten und fungieren als ‚mediale Brücke‘ zwischen der Welt der Geometrie und der Welt der DGS. Sie überspannen sozusagen das unsichere, sumpfige Gelände der geometrischen Konstruktionen. Der Fokus verschiebt sich dadurch vom Konstruieren von Figuren hin zum Arbeiten mit Figuren, zum Experimentieren, Erstellen und Deuten von Ortslinien, Entdecken von Eigenschaften, Überprüfen von Vermutungen, Begründen und lokalem Ordnen.
Es zeigen sich bei Schülern, die mit elektronischen Arbeitsblättern arbeiten, deutliche Veränderungen im Lernen[3]. Die Schüler sind mehr handelnd aktiv statt passiv zuhörend und arbeiten dadurch in viel höherem Maße eigenständig. Durch Partnerarbeit am Computer wird kooperativ gelernt, das entdeckende Lernen mit experimentellen, visuellen, heuristischen Ansätzen bekommt eine größere Bedeutung.
Gegenüber dem bisherigen Mathematikunterricht bekommt die Dokumentation des eigenen Vorgehens und des Nachdenkens darüber sowie die Präsentation der Ergebnisse einen höheren Stellenwert. Dies braucht Zeit und ist für Schüler ungewohnt und schwierig, aber unbedingt notwendig, um das ‚flüchtige Bild‘ der Aktivitäten an Computer und Bildschirm zu festigen.
In dem Maße, wie sich das Lernen der Schüler ändert, ändert sich auch das Lehren. Der Lehrer ist nicht mehr alleiniger Wissensvermittler, sondern muss die Lernprozesse der Schüler organisieren, beobachten und bei Bedarf beraten. Dazu gehört auch das Ermutigen zu alternativen Lösungswegen und das Angebot von geeigneten Zusatzaufgaben.
Das selbstständige Arbeiten der Schüler erfordert in besonderem Maße, die Wissensbasis der Schüler zu organisieren, um einen Wissens-Flickenteppich zu vermeiden. Die Entwicklung und Vermittlung von Methodenkompetenz ist dabei ein eigenes Lernziel, die Schüler müssen lernen, ihre Arbeit zu dokumentieren, zu reflektieren und zu präsentieren.
Das stärker experimentelle Arbeiten erfordert auch ein anderes Umgehen mit Fehlern. Eine ‚falsche‘ Vermutung ist eine (notwendige) Stufe im Erkenntnisprozess und eine Chance im Lernprozess; sie sollte nicht mit schlechten Noten geahndet werden. Der Lehrer sollte sich im Lernprozess weiter von der Rolle der allwissenden Kontrollinstanz lösen und Formen der Selbstkontrolle einführen. Das entlastet ihn und schafft Raum für die oben beschriebenen Aufgaben.
Schließlich wird es als Konsequenz auf Dauer auch Auswirkungen auf Leistungsüberprüfung und -bewertung geben[4].
Nach den bisherigen Erfahrungen und Rückmeldungen[5] kann man feststellen:
· Bei der Erstellung elektronischer Arbeitsblätter besteht die Gefahr einer unnötigen Engführung, die aus dem berechtigten Streben nach einer stabilen Basis für die Schüleraktivitäten erwächst[6].
· Es gibt ‚klammheimliche Voraussetzungen‘, die von uns als Aufgabenkonstrukteuren zunächst gar nicht als wesentliche Voraussetzungen erkannt wurden[7], sondern erst durch Rückmeldungen als solche offenbar wurden.
· Es gibt eine ‚Angst des Lehrers vor der eigenen Überflüssigkeit‘[8].
· Die elektronischen Arbeitsblätter ermöglichen durchaus verschiedene Lösungsansätze, können aber dennoch in der unterrichtlichen Behandlung vom Lehrer auf die ‚richtige‘ Lösung, die der Lehrer präsentiert, eingeengt werden, statt verschiedene Denkansätze der Schüler zuzulassen und vorzustellen.
Bisher liegen u. a. Beispiele von elektronischen Arbeitsblättern für die Klassen 7/8 vor, die mit dem Programm Euklid erstellt sind (Elschenbroich/ Seebach) und zur Zeit auch für Cabri II entwickelt werden. Sie enthalten vorbereitete Konstruktionen und die Aufgabenstellung für die Schüler[9].
Neue Ansätze gibt es durch die in letzter Zeit aufgekommenen Java-Geometrie-Programme wie z. B. Geonet oder Cinderella, die in der Umgebung eines Internet-Browser lauffähig sind. Zum einen ist es dadurch möglich, programmunabhängig Arbeitsblätter einzusetzen und Aufgaben via Internet zu stellen. Zum anderen bietet insbesondere Cinderella eine neue Lernumgebung[10], die es den Schülern ermöglicht, bei Bedarf vom Lehrer vorbereitete Hinweise abzurufen und durch einen im Hintergrund laufenden Beweiser Ergebniskontrolle und Rückmeldung zu erhalten. Dies ist in der Weise bei Cabri II oder Euklid nicht möglich. In diesen erweiterten Möglichkeiten dürfte ein enormes didaktisches Potential liegen, das sich in den nächsten Jahren entfalten wird.
Blum, Werner/ Kirsch Arnold: Warum haben nicht-triviale Lösungen von f ' = f keine Nullstellen? Beobachtungen und Bemerkungen zum 'inhaltlich anschaulichen' Beweisen. In: Kautschitsch/ Metzler (Hrsg.): Anschauliches Beweisen.
Elschenbroich,
Hans-Jürgen: Geometrie beweglich mit Euklid. Dümmler, Bonn 1996.
Elschenbroich,
Hans-Jürgen: Visuelles Beweisen - Neue Möglichkeiten durch Dynamische
GeometrieSoftware. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 1999. Franzbecker.
Elschenbroich,
Hans-Jürgen/ Seebach, Günther:
Dynamisch Geometrie entdecken. Elektronische Arbeitsblätter mit Euklid, Klasse
7/8. Dümmler-Stam, Köln 1999.
Kautschitsch,
Hermann: Wie kann ein Bild das Allgemeingültige vermitteln?
In:
Kautschitsch/ Metzler (Hrsg.): Anschauliches Beweisen. Hölder-Pichler-Tempsky,
Wien 1989.
Schumann,
Heinz: Interaktive Arbeitsblätter für das Geometrielernen. In: Mathematik in
der Schule 36 (1998)10, S. 562 – 569.
Treutlein,
Peter: Der geometrische Anfangsunterricht. Teubner, Leipzig 1911.
Wittmann,
Erich Christian; Müller, Gerhard: Wann ist ein Beweis ein Beweis? In:
Mathematikdidaktik: Theorie und Praxis. Festschrift für Heinrich Winter.
Cornelsen, Berlin 1988.
[1] “Als einer der Hauptunterschiede altgriechischer und neuzeitlicher Geometrie gilt das, daß in jener die Figuren sämtlich als starr und fest gegeben angenommen werden, in dieser als beweglich und gewissermaßen fließend, in stetem Übergang von einer Gestaltung zu anderen begriffen. ... Der Auffassung der Figuren als starrer Gebilde kann und muß in verschiedener Weise entgegen gearbeitet werden. Das eine hierzu Erforderliche ist das Beweglichmachen der Teile einer Figur ... .” Peter Treutlein, 1911.
[2]
Beispiele elektronischer Arbeitsblätter mit Euklid, Cabri II oder
Cinderella können in der Mathe-Werkstatt geladen werden: http://www.mathe-werkstatt.de/download/elab.zip
[3]
Dies sind bisher nur subjektive Erfahrungswerte, die noch empirisch überprüft
werden müssen. Wie sich auf dieser Tagung zeigte, gibt es dazu schon
verschiedene Forschungsprojekte, siehe z. B. die Beiträge von Thomas Gawlick und Gaby Heintz
in diesem Band.
[4]
Es lässt sich derzeit noch nicht in genügender Klarheit überblicken, in
welcher Weise solche Aufgaben auch in Klassenarbeiten Einzug halten. Daneben
werden aber vermutlich Referate und Facharbeiten ein größeres Gewicht
erhalten.
[5]
Hierfür danke ich Kristina Friebe, Thomas Gawlick, Gaby Heintz und Bernd
Wohlers.
[6]
Je mehr die Aufgaben auf einen speziellen Lehrer und seine Art zu
unterrichten zugeschnitten sind, desto leichter fällt eine Öffnung der
Aufgaben. In dem Maße, wie die Aufgaben für unterschiedliche Lehrertypen,
unterschiedliche Klassen mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen
geeignet sein sollen, wird eine stärkere Führung fast zwangsläufig. Hier
gilt es, ein akzeptables Maß zwischen Führung und Freiheit zu finden.
[7]
So ist zum Beispiel das Verständnis eines Kreises als Ortslinie der Punkte,
die von einem gegebenen Punkt M festen Abstand haben, in einer Klasse
vorhanden, in einer anderen Klasse aber eine große Hürde für die
Bearbeitung der Aufgabe, weil der Kreis nur als ‚runde Linie‘ gesehen
wird. Ähnliches ließ sich für die Mittelsenkrechten feststellen.
[8]
Es fällt Lehrern manchmal schwer, sich zurückzunehmen und den Schülern
Raum für eigene Arbeitsphasen zu geben. Dann besteht die Gefahr, einen
kurzschrittig fragend-entwickelnden Unterrichtsstil gegen den Ansatz der
elektronischen Arbeitsblättern durchzuhalten.
[9]
Beispiele in: http://www.mathe-werkstatt.de/download/elab.zip
[10]
vgl. dazu auch den Beitrag von Gaby Heintz in diesem Band.