Hans-Jürgen ELSCHENBROICH, Neuss

Visuelles Beweisen
Neue Möglichkeiten durch Dynamische GeometrieSoftware

1.     Beweise in der Mathematik und im Unterricht

Ein Beweis hat in der Fachwissenschaft die Aufgabe, die Gültigkeit eines Satzes zu zeigen. Das ist der Erkenntnis-Aspekt und er ist eigentlich mit dem einmaligen Beweisen erledigt. Gegebenenfalls kommen noch elegan­tere oder kürzere oder einfachere Beweise oder solche mit anderen Methoden hinzu. Bei Beweisen im Unterricht steht dagegen ein ganz anderer Aspekt im Vordergrund, nämlich der Verständnis-Aspekt.

Wittmann nimmt für den Unterricht von einem minimalen Axiomensystem bewusst Abstand und zieht die anschauliche Vorstellung mit ein. Das be­deutet aber nicht, dass logische Überlegungen ausgeschlossen werden.

"Diese Beweise haben aber mehr den Zweck, klar zu machen, warum ein Sachverhalt besteht und wie er mit anderen zusammenhängt, als zu zeigen, daß er gilt. ... Wir nehmen gewisse geometrische Beziehungen innerhalb be­stimmter inhaltlicher Zusammenhänge (Kontexte) als anschaulich gegeben hin und leiten aus ihnen durch logische Schlüsse Sachverhalte ab, die uns als nicht evident erscheinen."

2.     Präformale Beweise

In dem Bemühen, den Aspekt des Verstehens (der Schüler) stärker zu betonen, haben Wittmann und Müller das Konzept des inhaltlich-anschaulichen Beweises entwickelt. Sie unterscheiden folgende Stufen des Beweisens:

·        Experimentelle 'Beweise'

·        Inhaltlich-anschauliche Beweise

·        Formale ('wissenschaftliche') Beweise

"Die experimentellen 'Beweise' bestehen in einer Verifikation von einer endlichen Zahl von Beispielen, was natürlich keine Allgemeingültigkeit sichert." Dabei von ‚Beweis‘ zu sprechen, ist nicht unumstritten, weil dabei ja das Wesen eines Beweises geradezu konterkariert wird.

Die inhaltlich-anschaulichen Beweise grenzen sie klar von den experimentellen 'Beweisen' ab: "Inhaltlich-anschauliche, operative Beweise stützen sich dagegen auf Konstruktionen und Operationen, von denen intuitiv erkennbar ist, dass sie sich auf eine ganze Klasse von Beispielen anwenden lassen und bestimmte Folgerungen nach sich ziehen."

Blum/ Kirsch verfolgen diesen Ansatz weiter. Sie fügen dann noch die Stufe der handlungsbezogenen Beweise hinzu und fassen handlungsbezogene und inhaltlich-anschauliche Beweise unter dem Oberbegriff präformale Beweise zusammen. Sie betonen auch die Notwendigkeit, "Grundsätze für irrtumsfreies anschauliches Schließen entwickeln". Ein anschaulicher Beweis wird dann korrekt angesehen, wenn er nicht durch rationale Argumentationen zu erschüttern ist; er muss nicht notwendig in Wortform als eine Folge von Beweiszeilen niedergeschrieben sein.

3.     Anschauliches Beweisen

Schon vor dem Aufkommen der Dynamischen GeometrieSoftware (DGS) war 'Anschauliches Beweisen' ein Thema in der Mathematikdidaktik, z. B. bei Bender. Winter spricht auch von "Siehe-Beweisen", in denen sich "praktische Handlungen widerspiegeln".

Typisch für anschauliche Beweise ist, dass Bezeichnungen und Beziehungen aus der Zeichnung entnommen werden und eine Zeichnung als Anregung und als Protokoll des Vorgehens dient.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden vor allem Zeichentrickfilme als geeignetes Medium zum Führen und Zeigen anschaulicher Beweise gesehen. Moderne DGS sind mittlerweile geeignetere Werkzeuge, die auch der Schüler eigenaktiv einsetzen kann und durch die das, was sich früher vor dem inneren Auge bewegen musste, nun sichtbar gemacht werden kann.

4.     Was beweist eine Zeichnung?

"Daß eine Zeichnung an und für sich nichts beweist, wußten die Griechen natürlich auch schon vor Euklid.“ stellte Freudenthal fest. Dann sagt er aber weiter: „Die ideale Zeichnung wäre dagegen schon beweiskräftig."  Aber was ist denn eine 'ideale Zeichnung'?

Nicolet sagt dazu: "Ein Beweis ist nichts anderes als eine Überprüfung, und zwar nicht eine Überprüfung weniger Beispiele, sondern aller, selbst wenn ihre Zahl unendlich ist.“

Die entscheidende Frage ist: Wie kann ein Bild das Allgemeine zeigen?
Wie können an einer Figur unendlich viele Fälle
überprüft werden?

Durch die Deutung von Bildern als Handlungsprotokollen steht eine Zeichnung nicht als einzelne Figur, sondern als Repräsentant einer Klasse von Figuren. Diese Idee war auch schon bei den Pionieren der Bewegungsgeometrie vorhanden: "Die Zeichnungen sind dazu da, im Geist das allgemeine Bild einer gegebe­nen Figur zu wecken." Entscheidend ist "das Sichvorstellen einer unendlichen Anzahl von Figuren mit einer gemein­samen Eigenschaft nach einer einzigen Figur". Insbesondere "betrachtet man, wenn man ein geometrische Örter betreffendes Problem löst, in seiner Vorstellung einen Zeichentrickfilm". (Nicolet)

5.     Dynamische Invarianz-'Beweise'

Wird im Zugmodus eine Invarianz 'erlebt', so erscheint sie den Schülern evident. Die Figur und ihre Transformation liefern jedoch keine Beweisidee, sondern (nur) die Entdeckung/ Feststellung der Invarianz. Dies ist auf der Stufe der experimentellen 'Beweise' anzusiedeln und wird von mir dynamischer Invarianz-'Beweis' genannt.

Die experimentellen 'Beweise' und diese dynamischen Invarianz-'Beweise' können dann zu einer Klasse zusammengefasst werden, die ich Evidenz-‚Beweise‘ (oder Quasi-Beweise) nennen möchte.

6.     Visuell-dynamische Beweise[1]

Demgegenüber stehen Zeichnungen, die als Figur eines DGS im oben aus­geführ­ten Sinne allgemeingültig sind. Im Zugmodus geben Sie (z. B. durch geeignete Hilfslinien oder durch Symmetrieüberlegungen) Antwort auf die Frage "Warum ist das so?". Diese sind vollgültige präformale Be­weise und werden von mir visu­ell-dynamische Beweise genannt. Sie sind

·        visuell: anschaulich, auf eine Zeichnung bezogen als Figur, Eigen­schaften und Bezeichnung

·        dynamisch: keine einzelne, starre Zeichnung, sondern eine ideale Zeich­nung, eine ganze Klasse von Figuren mit gleichen Eigen­schaften, ermög­licht und sichtbar gemacht durch den Zugmodus von DGS.

·        Beweis: ein vollgültiger Beweis in dem Sinne, dass er nicht durch rationale Argumentationen zu erschüttern ist und in dem Sinne, dass eine Antwort auf die Frage nach dem 'Warum' gegeben wird.

Somit kann man das obige Beweisschema folgendermaßen erweitern:

·        Evidenz-'Beweise'

·        Experimentelle 'Beweise'

·        dynamische Invarianz-'Beweise'

·        Präformale Beweise

·        inhaltlich-anschauliche Beweise

·        handlungsorientierte Beweise

·        visuell-dynamische Beweise

·        formale ('wissenschaftliche') Beweise

Wichtig ist, dabei Grundsätze für irrtumsfreies visuelles Beweisen zu ent­wickeln. Volkert schreibt dazu: "Auch die Logik kennt Fehler. Nun wird man vielleicht einwenden: dann handelt es sich eben um einen Fehlschluß und keineswegs um einen logischen Schluß. Was der Logik recht ist, darf der Anschauung aber billig sein! Konsequenterweise müssen wir dann auch zwischen 'Fehlanschauungen' und richtigen Anschauungen unterscheiden."

Nach Kautschitsch ist dazu bei jedem Handlungschritt zu überlegen, warum die Handlung möglich ist.

Literatur

Bender, Peter: Anschauliches Beweisen im Geometrieunterricht - unter besonde­rer Berücksichtigung von (stetigen) Bewegungen und Verformungen. In: Kautschitsch/ Metzler (Hrsg): Anschauliches Beweisen. Hölder-Pichler-Tempsky, Wien 1989.

Blum, Werner/ Kirsch Arnold: Warum haben nicht-triviale Lösungen von f ' = f keine Nullstellen? Beobachtungen und Bemerkungen zum 'inhaltlich anschauli­chen' Bewei­sen. In: Kautschitsch/ Metzler: Anschauliches Beweisen.

Elschenbroich, Hans-Jürgen: Geometrie beweglich mit Euklid. Dümmler, Bonn 1996.

Elschenbroich, Hans-Jürgen: Dynamische Geometrieprogramme: Tod des Bewei­sens oder Entwicklung einer neuen Beweiskultur? In: MNU 8/ 97. 

Elschenbroich, Hans-Jürgen: Anschaulich(er) Beweisen mit dem Computer? In: Mathematische Bildung und neue Technologien. Vorträge beim 8. internationalen Symposium zur Didaktik der Mathematik. Klagenfurt 1998. Teubner, Stuttgart 1998.

Fletcher, T. J.: Die Probleme des mathematischen Films. In: Gattegno, C. u.a.: Zur Didaktik des Mathematikunterrichts, Band 2. Schroedel, Hannover 1971.

Freudenthal, Hans: Was beweist die Zeichnung? In: mathematik lehren, Heft 17/ 1986.

Kautschisch, Hermann: Wie kann ein Bild das Allgemeingültige vermitteln?
In: Kautschitsch/ Metzler: Anschauliches Beweisen.

Nicolet, J.-L.: Mathematische Anschaung und Film. In: Gattegno, C. u.a.: Zur Didaktik des Mathematikunterrichts, Band 2. Schroedel, Hannover 1971.

Volkert, Klaus:. Die Bedeutung der Anschauung für die Mathematik - historisch und systematisch betrachtet. In: Kautschitsch/ Metzler: Anschauliches Beweisen.

Winter, Heinrich: Zur Problematik des Beweisbedürfnisses. In: Journal für Mathema­tikdidaktik. Heft 1 1983.

Wittmann, Erich Christian; Müller, Gerhard: Wann ist ein Beweis ein Beweis? In: Mathematikdidaktik: Theorie und Praxis. Festschrift für Heinrich Winter. Cornel­sen, Berlin 1988.



[1] Im Vortrag wurden mehrere Beispiele für solche visuellen Beweise vorgestellt. Aus Platzgründen muss hier der Abdruck der Figuren entfallen. Die Figuren (als Euklid-Konstruktionen) können aber auf der Mathe-Werkstatt geladen werden:

http://home.t-online.de/home/elschenbroich/download.htm