Visuelles
Beweisen
Neue
Möglichkeiten durch Dynamische GeometrieSoftware
1.
Beweise in der Mathematik und im Unterricht
Ein
Beweis hat in der Fachwissenschaft die Aufgabe, die Gültigkeit eines Satzes zu
zeigen. Das ist der Erkenntnis-Aspekt
und er ist eigentlich mit dem einmaligen Beweisen erledigt. Gegebenenfalls
kommen noch elegantere oder kürzere oder einfachere Beweise oder solche mit
anderen Methoden hinzu. Bei Beweisen im Unterricht steht dagegen ein ganz
anderer Aspekt im Vordergrund, nämlich der Verständnis-Aspekt.
Wittmann
nimmt für den Unterricht von einem minimalen Axiomensystem bewusst Abstand und
zieht die anschauliche Vorstellung mit ein. Das bedeutet aber nicht, dass
logische Überlegungen ausgeschlossen werden.
"Diese
Beweise haben aber mehr den Zweck, klar zu machen, warum ein Sachverhalt besteht
und wie er mit anderen zusammenhängt, als zu zeigen, daß er gilt. ...
Wir nehmen gewisse geometrische Beziehungen innerhalb bestimmter inhaltlicher
Zusammenhänge (Kontexte) als anschaulich gegeben hin und leiten aus ihnen durch
logische Schlüsse Sachverhalte ab, die uns als nicht evident erscheinen."
2.
Präformale Beweise
In
dem Bemühen, den Aspekt des Verstehens (der Schüler) stärker zu betonen,
haben Wittmann und Müller das Konzept des inhaltlich-anschaulichen Beweises
entwickelt. Sie unterscheiden folgende Stufen des Beweisens:
·
Experimentelle 'Beweise'
·
Inhaltlich-anschauliche Beweise
·
Formale ('wissenschaftliche') Beweise
"Die
experimentellen 'Beweise' bestehen in einer Verifikation von einer endlichen
Zahl von Beispielen, was natürlich keine Allgemeingültigkeit sichert."
Dabei von ‚Beweis‘ zu sprechen, ist nicht unumstritten, weil dabei ja das
Wesen eines Beweises geradezu konterkariert wird.
Die
inhaltlich-anschaulichen Beweise grenzen sie klar von den experimentellen
'Beweisen' ab: "Inhaltlich-anschauliche, operative Beweise stützen sich
dagegen auf Konstruktionen und Operationen, von denen intuitiv erkennbar ist,
dass sie sich auf eine ganze Klasse von Beispielen anwenden lassen und bestimmte
Folgerungen nach sich ziehen."
Blum/
Kirsch verfolgen diesen Ansatz weiter. Sie fügen dann noch die Stufe der
handlungsbezogenen Beweise hinzu und fassen handlungsbezogene und
inhaltlich-anschauliche Beweise unter dem Oberbegriff präformale Beweise
zusammen. Sie betonen auch die Notwendigkeit, "Grundsätze für
irrtumsfreies anschauliches Schließen entwickeln". Ein anschaulicher
Beweis wird dann korrekt angesehen, wenn er nicht
durch rationale Argumentationen zu erschüttern ist; er muss nicht notwendig
in Wortform als eine Folge von Beweiszeilen niedergeschrieben sein.
3.
Anschauliches Beweisen
Schon
vor dem Aufkommen der Dynamischen GeometrieSoftware (DGS) war 'Anschauliches
Beweisen' ein Thema in der Mathematikdidaktik, z. B. bei Bender. Winter spricht
auch von "Siehe-Beweisen",
in denen sich "praktische Handlungen widerspiegeln".
Typisch für anschauliche Beweise ist, dass Bezeichnungen
und Beziehungen aus der Zeichnung entnommen werden und eine Zeichnung als Anregung
und als Protokoll des Vorgehens dient.
In
den vergangenen Jahrzehnten wurden vor allem Zeichentrickfilme als geeignetes
Medium zum Führen und Zeigen anschaulicher Beweise gesehen. Moderne DGS sind
mittlerweile geeignetere Werkzeuge, die auch der Schüler eigenaktiv einsetzen
kann und durch die das, was sich früher vor dem inneren Auge bewegen musste, nun sichtbar
gemacht werden kann.
4.
Was beweist eine Zeichnung?
"Daß
eine Zeichnung an und für sich nichts beweist, wußten die Griechen natürlich
auch schon vor Euklid.“ stellte Freudenthal fest. Dann sagt er aber weiter:
„Die ideale Zeichnung wäre dagegen schon beweiskräftig."
Aber was ist denn eine 'ideale Zeichnung'?
Nicolet
sagt dazu: "Ein Beweis ist nichts anderes als eine Überprüfung, und zwar
nicht eine Überprüfung weniger Beispiele, sondern aller, selbst wenn ihre Zahl
unendlich ist.“
Die
entscheidende Frage ist: Wie kann ein
Bild das Allgemeine zeigen?
Wie können an einer Figur unendlich viele Fälle überprüft
werden?
Durch
die Deutung von Bildern als
Handlungsprotokollen steht eine Zeichnung nicht als einzelne Figur, sondern
als Repräsentant einer Klasse von
Figuren. Diese Idee war auch schon bei den Pionieren der Bewegungsgeometrie
vorhanden: "Die Zeichnungen sind dazu da, im Geist das allgemeine Bild einer gegebenen Figur zu wecken."
Entscheidend ist "das Sichvorstellen einer unendlichen Anzahl von Figuren
mit einer gemeinsamen Eigenschaft nach einer einzigen Figur".
Insbesondere "betrachtet man, wenn man ein geometrische Örter betreffendes
Problem löst, in seiner Vorstellung einen Zeichentrickfilm". (Nicolet)
5.
Dynamische Invarianz-'Beweise'
Wird
im Zugmodus eine Invarianz 'erlebt', so erscheint sie den Schülern evident. Die
Figur und ihre Transformation liefern jedoch keine Beweisidee, sondern (nur) die
Entdeckung/ Feststellung der Invarianz. Dies ist auf der Stufe der
experimentellen 'Beweise' anzusiedeln und wird von mir dynamischer Invarianz-'Beweis' genannt.
Die
experimentellen 'Beweise' und diese dynamischen Invarianz-'Beweise' können dann
zu einer Klasse zusammengefasst werden, die ich Evidenz-‚Beweise‘ (oder Quasi-Beweise) nennen möchte.
6.
Visuell-dynamische Beweise[1]
Demgegenüber
stehen Zeichnungen, die als Figur eines DGS im oben ausgeführten Sinne
allgemeingültig sind. Im Zugmodus geben Sie (z. B. durch geeignete Hilfslinien
oder durch Symmetrieüberlegungen) Antwort auf die Frage "Warum
ist das so?". Diese sind vollgültige präformale Beweise und werden von
mir visuell-dynamische Beweise genannt. Sie sind
·
visuell:
anschaulich, auf eine Zeichnung bezogen als Figur, Eigenschaften und
Bezeichnung
·
dynamisch:
keine einzelne, starre Zeichnung, sondern eine ideale Zeichnung, eine ganze
Klasse von Figuren mit gleichen Eigenschaften, ermöglicht und sichtbar
gemacht durch den Zugmodus von DGS.
·
Beweis:
ein vollgültiger Beweis in dem Sinne, dass er nicht durch rationale
Argumentationen zu erschüttern ist und in dem Sinne, dass eine Antwort auf die
Frage nach dem 'Warum' gegeben wird.
Somit kann man das
obige Beweisschema folgendermaßen erweitern:
·
Evidenz-'Beweise'
·
Experimentelle 'Beweise'
·
dynamische Invarianz-'Beweise'
·
Präformale Beweise
·
inhaltlich-anschauliche Beweise
·
handlungsorientierte Beweise
·
visuell-dynamische Beweise
·
formale ('wissenschaftliche') Beweise
Wichtig
ist, dabei Grundsätze für irrtumsfreies
visuelles Beweisen zu entwickeln. Volkert schreibt dazu: "Auch die
Logik kennt Fehler. Nun wird man vielleicht einwenden: dann handelt es sich eben
um einen Fehlschluß und keineswegs um einen logischen Schluß. Was der Logik
recht ist, darf der Anschauung aber billig sein! Konsequenterweise müssen wir
dann auch zwischen 'Fehlanschauungen' und richtigen Anschauungen
unterscheiden."
Nach
Kautschitsch ist dazu bei jedem Handlungschritt zu überlegen, warum
die Handlung möglich ist.
Bender, Peter: Anschauliches Beweisen im Geometrieunterricht - unter besonderer Berücksichtigung von (stetigen) Bewegungen und Verformungen. In: Kautschitsch/ Metzler (Hrsg): Anschauliches Beweisen. Hölder-Pichler-Tempsky, Wien 1989.
Blum, Werner/ Kirsch Arnold: Warum haben nicht-triviale Lösungen von f ' = f keine Nullstellen? Beobachtungen und Bemerkungen zum 'inhaltlich anschaulichen' Beweisen. In: Kautschitsch/ Metzler: Anschauliches Beweisen.
Elschenbroich,
Hans-Jürgen: Geometrie beweglich mit Euklid. Dümmler, Bonn 1996.
Elschenbroich,
Hans-Jürgen: Dynamische Geometrieprogramme: Tod des Beweisens oder
Entwicklung einer neuen Beweiskultur? In: MNU 8/ 97.
Elschenbroich, Hans-Jürgen: Anschaulich(er) Beweisen mit dem Computer? In: Mathematische Bildung und neue Technologien. Vorträge beim 8. internationalen Symposium zur Didaktik der Mathematik. Klagenfurt 1998. Teubner, Stuttgart 1998.
Fletcher, T.
J.: Die Probleme des mathematischen Films. In: Gattegno, C. u.a.: Zur Didaktik
des Mathematikunterrichts, Band 2. Schroedel, Hannover 1971.
Freudenthal,
Hans: Was beweist die Zeichnung? In: mathematik lehren, Heft 17/ 1986.
Kautschisch,
Hermann: Wie kann ein Bild das Allgemeingültige vermitteln?
In: Kautschitsch/ Metzler: Anschauliches Beweisen.
Nicolet, J.-L.:
Mathematische Anschaung und Film. In: Gattegno, C. u.a.: Zur Didaktik des
Mathematikunterrichts, Band 2. Schroedel, Hannover 1971.
Volkert,
Klaus:. Die Bedeutung der Anschauung für die Mathematik - historisch und
systematisch betrachtet. In: Kautschitsch/ Metzler: Anschauliches Beweisen.
Winter, Heinrich: Zur Problematik des Beweisbedürfnisses.
In: Journal für Mathematikdidaktik. Heft 1 1983.
Wittmann, Erich Christian; Müller, Gerhard: Wann ist ein Beweis ein Beweis? In: Mathematikdidaktik: Theorie und Praxis. Festschrift für Heinrich Winter. Cornelsen, Berlin 1988.
[1] Im Vortrag wurden mehrere Beispiele für solche visuellen Beweise vorgestellt. Aus Platzgründen muss hier der Abdruck der Figuren entfallen. Die Figuren (als Euklid-Konstruktionen) können aber auf der Mathe-Werkstatt geladen werden:
http://home.t-online.de/home/elschenbroich/download.htm