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Zum Geleit - was kann und wo steht DGS heute?

Der Einsatz von Dynamischer Geometrie-Software (DGS) ist die dritte technologische Revolution im Lehren und Lernen von Mathematik (nach dem Siegeszug des Taschenrechners und der zunehmenden Verbreitung von Computeralgebrasystemen). DGS erlangt zunehmend in folgenden drei Bereichen an Bedeutung:
Mittlerweile leben wir im Jahr 11 nach der Vorstellung der DGS ,,Cabri Géomètre'', deren Funktionalität für alle Nachfolger richtungsweisend wurde - jede DGS erlaubt heute:
Diese Leistungsmerkmale von DGS erweitern gegenüber der Papiergeometrie den Handlungsspielraum in folgender Hinsicht:
Dieser positiven Entwicklung steht die folgende Beobachtung aus dem klassischen Schulunterricht diametral gegenüber: Die Geometrie befindet sich im Mathematikunterricht seit vielen Jahren in der Krise und auf dem Rückzug. Die Abbildungsgeometrie ist in der Unterrichtspraxis gescheitert, die Kongruenzgeometrie verliert sich in kaum noch vermittelbaren Konstruktionen, das formale, deduktive Beweisen ist immer schwerer zu vermitteln und findet kaum noch statt. Hierdurch geht etwas Essentielles zunehmend verloren: Denn elementargeometrische Konstruktionen und Argumentationen sind klassischer Bestandteil der Mathematik, auf dem sowohl in der Forschung als auch in der Lehre auf verschiedensten Niveaus aufgebaut werden kann und muss. Nicht zuletzt liegt ja ein Wesenszug der Geometrie in der Möglichkeit, abstrakte mathematische Zusammenhänge konkret erfahrbar und anschaulich zu machen. In dieser Hinsicht wecken die Möglichkeiten der DGS Hoffnungen auf eine Wiederbelebung des Geometrieunterrichts und zugleich auf die - notwendige - Förderung heuristischen Problemlösens und der Exploration und argumentativen Durchdringung komplexer Zusammenhänge.

Darüber hinaus wirft die Umsetzung abstrakter geometrischer Konzepte in die konkrete Implementierung einer DGS auch neue Forschungsfragen auf. Diese beginnen bei der richtigen mathematischen Modellierung dynamisch geometrischer Situationen, gehen weiter über die Exploration von Möglichkeiten zum computergestützten Beweisen geometrischer Sätze und führen bis hin zu fundamentalen Fragen nach der Definition des Theorembegriffs in dynamischen Kontexten. Oftmals stehen die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragestellungen in direktem Bezug zu klassischen Fragen, die im 19. Jahrhundert untersucht wurden, die aber im Zuge der Algebraisierung und Axiomatisierung im frühen 20. Jahrhundert in Vergessenheit gerieten. Insbesondere Projektive Geometrie, Invariantentheorie und komplexe Funktionentheorie sind in ihren algorithmischen Varianten im Kontext der DGS von entscheidender Bedeutung. Es ist hierbei wichtig zu betonen, dass die im Rahmen einer DGS zu verwendende Mathematik keinesfalls aus der einfachen Umsetzung altbewährter Methoden besteht. Vielmehr ist an vielen Stellen fundamentale Begriffsbildung gefragt (sowohl auf der didaktischen als auch auf der fachlichen Seite).

Nachdem bereits ein erster Workshop über ,,Lernprozesse mit DGS'' in Vechta stattgefunden hat, vgl. Gawlick(2000a),  wird nun im Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach ein Workshop stattfinden , der speziell die mathematischen Grundlagen, Eigenschaften und Grenzen von DGS und ihren Einfluss auf die Begriffsbildung der Lernenden in den Blick nimmt. Zielsetzung des Workshops ist hierbei die Intensivierung des Gesprächs zwischen der fachmathematischen und der fachdidaktischen Seite, die jeweils dynamische Geometriesysteme unter verschiedenen Blickwinkeln studieren, was etwa im Bereich der Konzepte zum automatischen Beweisen und zur Beschreibung von Konfigurationsräumen für beide Seiten fruchtbringend sein sollte. Ziel des Workshops ist einerseits das Kommunizieren und Vorantreiben der in den letzten Jahren gewonnenen Erkenntnisse. Andererseits kann ein durch diesen Workshop initiierter und intensivierter Austausch auf beide Seiten befruchtend wirken, indem er das Problembewusstsein für verwandte Fragestellungen, die auf der jeweils anderen Seite liegen, verschärft.
 

   
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Stand der Forschung

Didaktik

 

 

Nach über zehnjähriger Diskussion gibt es zahllose Arbeiten zum unterrichtlichen Einsatz von DGS. Nur wenige Konzepte wurden allerdings wissenschaftlich evaluiert. Im Bereich DGS liegen den Antragstellern keine quantitativen empirischen Studien vor, die den Kriterien von Ruthven (1997) genügen (i.e. Experimental- und Kontrollgruppen, Pre- und Posttest ); es gibt allerdings Feldstudien von Weth (1994, 1998) und Weigand (1999b). Wegweisend sind die qualitativen empirischen Studien von Hölzl (1994, 2000): Hölzl interpretiert Transkripte video- und audiodokumentierter Interaktionen von Lernenden mit DGS; erkenntnisleitendes Interesse ist der empirische Abgleich stoffdidaktischer Analysen mit konkreten Verläufen von Problemlöseprozessen. In seiner Dissertation untersucht Hölzl (1994) die eigenständigen Problemlöseprozesse von Schülerpaaren eines Wahlpflichtkurses und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Interaktivität des Mediums die Lernenden zu Eigeninteresse und Ausdauer motiviert, es jedoch subtile Interaktionen zwischen der Geometrieauffassung der Software und der Vorstellung des Lerners gibt. In der Interaktion mit der DGS treten außerdem folgende problematische Handlungsweisen auf (Hölzl 1995, S. 93f.):

Offen bleibt dabei allerdings aufgrund des gewählten Designs die Frage, inwieweit es sich dabei um Begleiterscheinungen des Unterrichtsaufbaus, der Lehrperson, des Computereinsatzes oder von Mathematikunterricht schlechthin handelt, und ob der Computereinsatz die genannten Handlungsweisen verursacht oder beeinflusst. Hölzl (2000) berichtet über DGS-Einsatz in Klassenraumsituationen und kommt zu folgenden Schlussfolgerungen:
In den Hölzlschen Analysen tritt der zweischneidige Charakter des Computer-Einsatzes deutlich zu Tage: Einerseits durch das heuristische Potential eine mathematisch äußerst reizvollen Erweiterung des Handlungsspielraums - andererseits durch die Interaktivität des Mediums auch die Gefahr des ,,degoaling'' (Hoyles und Sutherland 1989). Zudem bedarf es wegen der unvermeidlichen ,,computational transposition'' (Balacheff 1993, Balacheff und Sutherland 1994) fachlich, aber auch fachdidaktisch reflektierter Konzeptionen für den DGS-Einsatz.

 
   
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Grundlagenforschung und Programmentwicklung

 

 

 Die ersten, gegen Mitte der 80er erhältlichen, dynamischen Geometrieprogramme verfolgten einen im Wesentlichen ,,naiven'' Ansatz, der geometrische Elemente intern direkt durch ihre euklidischen Parameter darstellt und Berechnungen mit Mitteln der Schulmathematik durchführt. In den letzten Jahren wurde an verschiedenen Stellen daran gearbeitet, die ,,naiven'' Konzepte durch mathematisch fundierte Theorien zu ersetzen, die es ermöglichen, eine einmal gemachte geometrische Konstruktion in einem sehr weiten Kontext zu interpretieren. Basierend auf diesen Entwicklungen entstand sozusagen eine zweite Generation von DGS, deren Möglichkeiten bei weitem über die ihrer Vorläufer hinausgehen. Typische Charakteristika dieser neueren Geometrieprogramme sind folgende (Quasi als Referenzprogramme beziehen wir uns hier auf die folgenden DGS: Cabri Geométrè (Laborde &Bellemain (1993-1998), Cedric (von Oertzen 1999), Cinderella (Richter-Gebert & Kortenkamp 1999, 2000) und Geometry Expert (Gao et al 1998).):

Keiner der oben genannten Punkte kann losgelöst von entsprechenden Fortschritten in der mathematischen Forschung gesehen werden. Allein im Bereich des automatischen Beweisens sind während der letzen zehn Jahre mindestens 100 Veröffentlichungen zu verzeichnen. Stellvertretend hierfür seinen nur die Proceedingsbände zweier Konferenzen unter dem Titel Automated Deduction in Geometry erwähnt (Gao, et. al. 1999, Wang 1997) sowie der Übersichtsartikel (Wang 1996). Die dritte Konferenz in Folge wird in diesem Jahr an der ETH-Zürich stattfinden und von einem der Antragsteller (R.-G.) mitveranstaltet. In einer sehr aktiven Forschungsgemeinschaft werden hierbei verschiedene Ansätze des automatischen Beweisens mit ihren jeweiligen Tragweiten und inhärenten Vor- und Nachteilen diskutiert. Wichtig hierbei ist auch, dass in den letzten Jahren invariantentheoretischen Ansätzen zur formalen Behandlung von Geometrie wieder große Aufmerksamkeit gewidmet wurde, insbesondere unter Einbeziehung der algorithmischen Aspekte (Bokowski & Sturmfels 1989, Sturmfels 1993).

Ein weiterer Aspekt, der in den letzten Jahren im Blickfeld der Forschung stand (und noch steht) ist das Studium von Konfigurationsräumen geometrischer Konfigurationen. In international sehr angesehenen Arbeiten wurde hier gezeigt, dass die in den verschiedensten Bereichen geometrischer Modellbildung (Geradenarrangements, Punktkonfigurationen, Gelenkmechanismen, Polytope) auftretenden Konfigurationsräume hochgradig nicht-triviale Strukturen haben können (Kapovich & Milson 1999, Mnev 1988, Richter-Gebert 1995a,b). Dies führte auch zu einer Neubetrachtung topologischer Aspekte bei elementargeometrischen Konstruktionen, wie sie in DGS vorliegen. Insbesondere stellte sich dabei heraus, dass bestimmte, in vielen DGS auftretende Effekte, die sich in spontanem Springen von mehrdeutig definierten Elementen äußern (vgl. Laborde 1997), ihre Ursache in nicht-trivialen topologischen Strukturen der auftretenden Konfigurationsräume haben (Kortenkamp 1999a,b, Kortenkamp & Richter-Gebert 2000). Die in diesen Arbeiten gewonnenen Erkenntnisse sind nicht nur für den Bereich der DGS interessant, sie haben auch weitreichende Auswirkungen auf Stabilitäts- und Konsistenzeigenschaften im parametrischen CAD (Hoffmann 1996), computergestützter Kinematik und Virtual Reality. 

 

 
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Perspektiven

Im Workshop sollen folgende Schwerpunkte in Sektionen diskutiert werden:
    Beweisen im Mathematikunterricht - aber wie? Neue Möglichkeiten mit DGS

    ,,Was'' und ,,wie'' beweist der 'Beweiser' einer DGS?

    Der Zugmodus: mathematische Grundlagen und didaktische Konsequenzen

    DGS, projektive und reell algebraische Geometrie

    Veränderungen in Lehren und Lernen durch DGS

Weitere Einzelheiten finden sich in den Abstracts.  Vorab folgen hier einige Überlegungen der Organisatoren zu Auswahl und Ausgestaltung der  Schwerpunkte.

Vergleicht man die oben einleitend skizzierten Nutzungsweisen mit den Möglichkeiten von DGS, kommt unweigerlich die Frage sowohl nach der Aussagekraft als auch nach dem didaktischen Nutzen von Beweisern auf. Hier ist die Kluft zwischen Schul- und Forschungsmathematik wohl besonders groß und die Diskussion besonders nötig. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt darin, dass beim Erforschen, Entwickeln und Implementieren eines bestimmten Beweisverfahrens oftmals zunächst Probleme relevant sind, die auf der mathematischen Seite (prinzipielle Aussagekraft eines Verfahrens) oder auf der informatischen Seite (algorithmische Komplexität, modulare Einbettung eines Beweisers in eine DGS) liegen.

Für den Workshop versprechen wir uns von einer intensivierten Kommunikation von Schul- und Forschungsmathematik einen zweiseitigen Nutzen. Einerseits können didaktische Anforderungen befruchtend auf die grundlagentheoretische Seite wirken, indem sie mit neuen Problemkreisen konfrontieren, die vom Standpunkt der Mathematikforschung zunächst nicht offensichtlich sind (z.B. die Frage nach der Analyse des von einem Schüler eingeschlagenen Konstruktionswegs für ein konkretes Problem - wie kann eine DGS automatisch erkennen, ob der Schüler auf dem richtigen/ falschen Weg ist.) Andererseits versprechen wir uns auf didaktischer Seite ein erhöhtes Problemverständnis in die spezifischen, einem Beweiser zu Grunde liegenden mathematischen Schwierigkeiten. Insbesondere ist hier eine Diskussion über die Tragweite und Einsetzbarkeit der verschiedenen Beweiskonzepte zu erwarten.

Auch im Hinblick auf die Möglichkeiten des Zugmodus ergeben sich Fragestellungen, die einer vertieften und auch mathematisch stärker fundierten Behandlung bedürfen, denn "to understand students' (mathematical) experiences, it is important to characterize DG's behavior (in a mathematical way)." (Goldenberg & Cuoco 1998). Von dieser Diskussion erhoffen wir uns neue Einsichten in die bereits eingehend, aber nicht konkludent diskutierte Frage, in welchem Sinne es sich bei der dynamischen Geometrie  um eine "neue" Geometrie handelt oder nur um eine andere Darstellung der euklidischen. Ein vertieftes Verständnis in die mathematische Natur von Sprungphänomenen beim Ziehen kann Entscheidungen sowohl hinsichtlich des Entwurfs von DGS als auch des unterrichtlichen Einsatzes erleichtern.

Auf dieser Basis sind auch Anwendungen von DGS denkbar (und auf dem Hintergrund der didaktischen Diskussion wünschenswert), die die Möglichkeiten von DGS stärker als bisher üblich in reichhaltigen mathematischen Kontexten nutzen. Im Hinblick auf die praktische Umsetzbarkeit dieser und vorhandener Innovationen darf hierbei natürlich die didaktische Perspektive nicht aus den Augen verloren werden:

Die Veränderungen bestehender Unterrichtsstrukturen und -inhalte und die Konstruktion neuer Inhalte auf der Basis neuer Technologien im Mathematikunterricht ist Bestandteil aktueller Diskussion im Bereich der Mathematikdidaktik. Die Zeit der Euphorie ist vorbei, die durch neue Softwareentwicklungen, im deutschsprachigen Raum allgemein als interaktive oder dynamische Geometrie- Software bezeichnet, qualitativ hochwertige bzw. größere Lernerfolge prophezeite. Der Fragestellung, welchen Einfluss der Computer auf den Mathematikunterricht und seine Lernbedingungen hat, muss nachgegangen werden.

Während einige den didaktischen Wert von DGS für den Schulunterricht an sich infrage stellen, vgl. Bender 1999, deuten aktuelle Forschungsergebnisse neue Chancen an, vgl. Heintz 2000c. Neue Forderungen an die Lehrerausbildung an der Hochschule entstehen aufgrund der veränderten Lehrbedingungen an den Schulen. Konzepte müssen dazu noch weiter entwickelt werden.

Aufgabe der Mathematikdidaktik wird es deshalb sein, Designs für Unterricht mit dem Computer zu entwerfen. Hier spielen die einzusetzenden Arbeitsblätter, die neu zu organisierende Lernumgebung für die Arbeit mit dem Computer eine große Rolle. Die Berücksichtigung des persönlichen Lernprozesses, die Vielfältigkeit von Lösungswegen, die Gestaltung der Arbeitsaufträge müssen konkrete Umsetzung finden. Wenn sich das Lernen verändert, wie muss sich dann infolge das Lehren verändern? Fragen, die zu klären sind.

Hieraus ergeben sich  u.a. die folgenden  Forschungsfragen, sie betreffen auch alle  Phasen der Lehrerbildung (die universitäre Phase, den Vorbereitungsdienst und die Lehrerfortbildung):

 
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